P. Roth: Die Gemeinden und ihre Praktiken im Bergell

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Title
Korporativ denken, genossenschaftlich organisieren, feudal handeln. Die Gemeinden und ihre Praktiken im Bergell des 14.–16. Jahrhunderts


Author(s)
Roth, Prisca
Published
Zürich 2019: Chronos Verlag
Extent
428 S., 60 SW-Abb.
Price
€ 58,00
by
Rahel Wunderli, Historisches Institut, Universität Bern

Soviel vorneweg: Wer sich für die Geschichte von lokalen / kommunalen Organisationsformen interessiert, ist mit diesem Buch bestens bedient. Prisca Roth legt eine dichte, vielschichtige und aufschlussreiche Studie zu den Bergeller Gemeinden im ausgehenden Mittelalter vor, in der sie die Kommunen als Akteurinnen in einem über das Bündner Südtal hinausreichenden institutionellen Gefüge untersucht. Die Zürcher Dissertation beruht auf umfangreichen Arbeiten in verschiedenen Archiven.

Spätmittelalterliche Gemeinden, diese im 19. und 20. Jahrhundert als «Urzellen der Demokratie» symbolisch aufgeladenen Gebilde als Akteurinnen zu untersuchen heisst, sie als Kollektive zu abstrahieren, die sich gegenüber einander und gegenüber weiteren Institutionen (im vorliegenden Fall u. a. dem Bischof von Chur und den lombardischen Städten Chiavenna und Como) behaupten mussten und gleichzeitig in vielerlei Abhängigkeiten zu ihnen standen. In Roths Darstellung, die auf der präzisen Lektüre von Notariatsakten, Urkunden und Dorfstatuten fusst, kommen die Partikularinteressen innerhalb dieser Gebilde zwar deutlich zum Vorschein – insbesondere jene der lokalen Eliten – und es zeigt sich einmal mehr, dass das kollektive Handeln nicht vor dem Hintergrund einer wie auch immer gearteten Gleichheit erfolgte, sondern vielmehr darauf abzielte, das grosse interne Konfliktpotenzial angesichts sozio-ökonomischer Differenzen, einer unstabilen Versorgungslage und gleichzeitig sich etablierender überregionaler Märkte, bewältigbar zu halten. Die Autorin kommt mehrmals auf die inneren Unterschiede zu sprechen, u. a. auf den Aufstieg von Geschlechtern aus dem Tal wie der Castelmur oder Salis. Auch Konfliktverläufe werden beschrieben. Damit erhalten die Gemeinden und die Talschaft Konturen als soziale Gefüge. Roth lässt sich aber nicht von den Geschichten einzelner Figuren oder Familien ablenken, sondern behält ihren Blick auf den Verbänden als analytische Einheit. Dabei zeigt sich: Je nach Problemlage war Konsens nach aussen oder Konflikt nach innen angesagt.

Dass Roth das ganze Tal in den Blick nimmt, ist ein Glücksfall, denn damit erschliesst sich ihr und den LeserInnen die Heterogenität des institutionellen Regimes. Nicht jede Siedlung hatte dasselbe politische Gewicht. Da waren die beiden «Grossgemeinden» Sopraporta und Sottoporta mit Soglio und Vicosoprano als jeweilige politische Zentren. Daneben existierten weitere räumliche und politische Einheiten, deren rechtlicher Status aufgrund der uneindeutigen Terminologie in den Dokumenten allerdings oft schwierig festzustellen ist. Roth unterscheidet aufgrund der Quellen zwischen Nachbarschaften (vicinitas) und Gemeinden (communis) und beschreibt die Handlungsspielräume dieser einzelnen Zusammenschlüsse, wobei sie auch Spezifika einzelner Dörfer herausschält. Auffallend ist, dass jene Nachbarschaften und Gemeinden, die keine eigenen Alpen besassen, auch keine Bestrebungen nach politischer Eigenständigkeit (z.B. bei Wahlen oder bezüglich Gerichtsstandorten) an den Tag legten. Territorium, Ökonomie und Politik standen also in engem Wechselspiel. Mehrfach stellt Roth denn auch den Zusammenhang zur Commons-Forschung her.

Das Eingebundensein in überregionale politische Zusammenhänge wird ebenfalls sorgfältig herausgearbeitet. So zum Beispiel die Integration in Transportnetze mit europäischer Ausdehnung, die für die Geschichte des Tals zentral war – sowohl bezüglich Aufwand (z.B. Unterhalt der Maloja-Passstrasse) als auch bezüglich Ertrag (z.B. Niederlassung reicher Kaufleute).

Die Autorin umkreist ihren Forschungsgegenstand, beleuchtet die Gemeinden von verschiedenen Seiten und stösst dabei auf eine Vielzahl von Handlungsstrategien, die im Buchtitel ihren Niederschlag finden. Ressourcennutzung und weitere Reglementierungen des wirtschaftlichen Lebens, politische Organisationsformen, die Funktion der Kirche sowie die Frage nach sozialer Zugehörigkeit und Ausgrenzung sind die Hauptthemen ihrer Auseinandersetzung. Zu jedem Bereich nimmt sie Bezug zum alpinen Umland und zu Konzepten und Theorien aus verschiedenen Disziplinen, die sie anhand der Quellen prüft. In manchen Fällen drängt die Empirie dann eine Modifizierung der Modelle oder historiographischen Hypothesen auf. Besonders in Erinnerung bleibt die zunächst abstrakte und etwas sperrige, dann aber umso interessantere Auseinandersetzung mit dem Problembereich Inklusion / Exklusion, wo sie Niklas Luhmanns Systemtheorie als Ausgangspunkt wählt und seine Ansätze nutzt, um zu erläutern, dass das Bürgerrecht der Bergeller Gemeinden nicht eine fixe Linie zwischen Ausschluss und Zugehörigkeit markierte, sondern als Bereich gehandhabt wurde, der verschiedene Optionen von Integration bereithielt.

Am Schluss bleibt das Bild von mittelalterlichen Gemeinden als Beziehungsrahmen, die die Interaktionen zwischen denjenigen regulierten, die ihnen in unterschiedlicher Weise zugehörten. Regulieren und Verwalten erweisen sich als Kernanliegen und eigentliche Daseinsberechtigung dieser Gemeinden. Unschwer zu erkennen, dass sich diese Gebilde den juristisch-politischen Zuschreibungen des 19./20. Jahrhunderts weitgehend entziehen. Kondensiert werden die Ergebnisse der Studie in der von Jon Bischoff illustrierten Bildergeschichte «Ein Tag im Leben von Fredericus Salis». Es ist eine mutige und lohnende Entscheidung von Prisca Roth, ihre Resultate in dieser Alltagsbeschreibung visuell-sinnlich darstellen zu lassen. Die Komplexität und der hohe Ambivalenzgrad ihres Forschungsgegenstands erschliessen sich so auf einer Ebene, die dem rein sprachlichen Zugang verschlossen bleibt.

Zitierweise:
Wunderli, Rahel: Rezension zu: Roth, Prisca: Korporativ denken, genossenschaftlich organisieren, feudal handeln. Die Gemeinden und ihre Praktiken im Bergell des 14.–16. Jahrhunderts, Zürich 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 367-368. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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